Der Name passt zum Anliegen – innovative Energiekonzepte für Bremerhaven
Interview mit Till Scherzinger über das EU-Projekt Act Now!
BIS: Act Now steht für eine Energie-Aktion Städten des Ostseeraums. Wie kam das Projekt zustande?
Till Scherzinger: ActNow! setzt bei einem EU-Vorprojekt PEA – Public Energy Alternatives – an, in dem es, damals ohne Bremerhavener Beteiligung, bereits um die Erschließung regionaler Potenziale von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz in öffentlichen Gebäuden für Kommunen ging.
Das aktuell laufende Projekt Act Now! nahm etwa zwei Jahre Vorbereitungszeit in Anspruch. Durch PEA wurden zuvor gute technische Lösungen erarbeitet, die aber nicht voller Gänze den erhofften Effekt im Alltag hatten. Das soll durch ActNow! nun verbessert werden. Ziel ist es, die Energieeffizienz weiter zu verbessern und die Wertschöpfung daraus möglichst in den Regionen zu halten. Bremerhaven koordiniert das Projekt.
Die Vision Klimastadt wirkt in Bremerhaven, mit z. B. seiner Windenergie, der Wegbereitung für eine Green Economy Ansiedlung und die Klimaschutz- und Klimaanpassungsprogrammatik sowie dem Jugendklimarat, ganz offenkundig identitätsstiftend. Damit sind bereits die Grundzüge eines authentischen Images als Klimastadt angelegt. Dies wird durch unser Projekt ActNow! ideal ergänzt!
Welche Ziele sind regional und europaweit formuliert?
Till Scherzinger: Act Now! soll die beteiligten Kommunen befähigen, die Energieeffizienz ihres Gebäudebestandes stark zu verbessern, indem z. B. gezielt Investitionen ausgelöst werden. Das korrespondiert mit der Energiestrategie der Europäischen Union. Um das zu erreichen, müssen Stärken und Schwächen untersucht, Kompetenzen auf- oder ausgebaut und Methoden der Kompetenzentwicklung erdacht und verfeinert werden. Sogenannte „Partnertandems“, bestehend aus der Kommune und einem beratenden Experten, befassen sich daher z. B. mit dem Einsatz von Messsystemen für den Energieverbrauch, der Umsetzung von strategischer Energieplanung (SEAPS, Strategic Energy Action Plans), Finanzierungsmodellen und der Identifikation geeigneter kommunaler Strukturen zur Förderung öffentlich-privater Partnerschaften. Am Ende des Projekts stehen dokumentierte Methoden und Trainings für die bestmögliche Anwendbarkeit von Energiemanagementsystemen.
Das gemeinsame Projekt endet am 30.9.2020. Das Klimastadtbüro Bremerhaven wird dann nach weiteren drei Monaten administrativer Abwicklung das Projekt beenden.
Welche Rolle spielt das Klimastadtbüro Bremerhaven ganz konkret?
Scherzinger: Wir koordinieren das Projekt Act Now! bei dem 17 Partner aus den Ostseeanrainer-Ländern – namentlich aus Polen, Russland, Litauen, Estland, Lettland, Finnland, Schweden, Dänemark und Deutschland – sehr ergebnisorientiert zusammenarbeiten.
Neben eher technischen Aspekten, wie dem Lokalisieren und Ausschöpfen von Einsparpotentialen und dem Controlling des Energieverbrauchs, ist unserer Auffassung nach das Zusammenspiel zwischen der Kommune und ihren Stakeholdern eine tragende Säule für die effiziente Verwendung von Energie. Das Klimastadtbüro kann hierzu aus kommunaler Sicht einen reichhaltigen Erfahrungsschatz in das Projekt Act Now! einbringen, so wie unser dänischer Partner ProjectZero übrigens aus unternehmerischer Perspektive. Eine für Act Now! ganz wunderbare Konstellation.
In dem Projekt dann auch noch als Lead-Partner im Rahmen eines EU-Projektes zu agieren, ist für uns Premiere, Lehrstück und großer Ansporn besser zu werden. Wir waren gewarnt – der Verwaltungsaufwand für die Projektadministration ist zwar stellenweise fordernd und das Verständnis dafür, was die Geldgeber wollen wird genau abgefragt. Andererseits ist trotz der Bürokratie die Zusammenarbeit nach allen Seiten hin sehr inspirierend und kooperativ. Insgesamt betrachtet bietet sich uns hier gerade eine tolle Chance.
Von der Gesamtfördersumme seitens der EU in Höhe von 3,55 Mio. Euro stehen Bremerhaven aufgrund seiner Leitungsfunktion rd. 700.000 Euro zur Verfügung. Dieses Geld fließt überwiegend in das Projektmanagement und unser in Kürze beginnendes Vorzeigeprojekt „Klimameile Alte Bürger“.
Eine weitere deutsche Projektbeteiligung aus Lüneburg, namentlich die Leuphana Universität, mit der wir als deutsches Partnertandem eng zusammenarbeiten, befasst sich mit innovativen Finanzierungsmodellen für die Energiewende wie z.B. Green Bonds, also grüne Anleihen für gutes Klima (das Geld lokaler Banken kommt ausschließlich klimafreundlichen Projekten zugute).
Die „Klimameile Alte Bürger“ in Bremerhaven ist quasi die Blaupause als „exemplarisches Quartier“. Warum gerade dort?
Scherzinger: Weil hier bereits spürbar ein hohes Bewusstsein für den klimagerechten Struktur- und Lebenswandel zu finden ist. Die Anwohner mit ihrem selbstverwalteten Repair Café, ansässige Gewerbetreibende, Quartiermeisterei, die Werbegemeinschaft Alte Bürger, die städtische Wohnungsbaugesellschaft Stäwog und private Hausverwaltungen ziehen hier oft schon gemeinsam an einem Strang – mit dem Ziel einer nachhaltigen Aufwertung des Quartiers.
Nicht zuletzt das zeigt, dass die Bewohner hier so etwas wie einer Transition-Town-Bewegung gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Das ist wichtig für eine Klimameile, denn die Akzeptanz und noch mehr die Bereitschaft zur Mitwirkung ist ja ein wichtiges Element für den späteren Erfolg des Projektes. Hinzu kommt, dass es sich aus energetischer Sicht bei dem Quartier „Alte Bürger“ um ein sehr interessantes Gebäudeensemble aus der Jahrhundertwende des beginnenden 20. Jahrhunderts handelt. Da drängt sich die Frage förmlich auf, wie kriege ich dort eine Energiewende hin ohne das Gesicht solch einer Straße zu ihrem Nachteil zu verändern. Interessant ist für uns auch die durchmischte Eigentümer- und Mieterstruktur. Die könnte man als heikel empfinden, doch gerade diese Diversität sehe ich als große Chance bei der Umsetzung unseres Vorhabens – die Erfolgsaussichten sind damit ungleich größer, als wenn bspw. nur ein Mehrfamilienhaus mit einem Eigentümer als Adressat in Frage käme.
In erster Linie soll der private Sektor mobilisiert werden?
Scherzinger: Ja, durch Angebote und Bemühungen der öffentlichen Hand. Das ist ganz im Sinne des Act Now! – Projektes. Damit verknüpfen wir z. B. Fragen nach dem Einfluss der Verbraucherpsychologie auf die Wirksamkeit von Energieeffizienzmaßnahmen. Auch hier nenne ich Ihnen ein exemplarisches Beispiel, wie gute technische Lösungsansätze erst durch die Berücksichtigung der Nutzer in den Haushalten vollständig umgesetzt werden können.
Bei unserem dänischen Städtepartner wurde in einem Wohnblock ein Projekt zur Verbrauchsoptimierung von Heizenergie umgesetzt. Die Mieter wurden gebeten, über Displays in ihren Wohnungen die Heizenergieverbräuche zu kontrollieren und ggf. schlechte Werte zu melden. Das lief im ersten Anlauf gar nicht rund. Erst als den Mietern durch drei verschiedene Smileys der Stand des Verbrauchs von schlecht nach gut signalisiert wurde, gab es eine effiziente Energiekontrolle – und im Endeffekt richtig gute Einsparerfolge. Die Technik und deren Funktionalität ist die eine Seite der Medaille – die Betroffenen kommunikativ abzuholen und dabei positiv zu motivieren ist die andere Seite.
Auch das Anklopfen an die Haustüren durch geschulte Betreuer, denen z. B. Mieter ihr Vertrauen schenken wollen, halte ich für ein geeignetes Mittel zur Umsetzung unserer Ziele zur Aufwertung der Klimameile.
Gibt es bereits vorzeigbare Erfolge in der Seestadt?
Scherzinger: In Sachen Energieeffizienz einige. Die Stäwog hat den zunehmenden Wohnungs-und Gewerbeleerständen Paroli geboten (und konnte seinerzeit aus Mitteln zum Stadtumbau West schöpfen) und wurde für ihre Sanierungen preisgekrönt.
Seestadt Immobilien setzte ökonomisch sinnvolle Einsparlösungen wie die Passivhaus-Kindergärten in Bremerhaven um.
Im 3/4-Plus-Programm geht es um clevere Energie- und Wassernutzung an allen Bremerhavener Schulen. Die Schüler haben nach „Lecks“ geschaut, ihre Energiesparlösungen vorgestellt und wurden für umgesetzte Maßnahmen konkret finanziell belohnt. Der Kippschalter zur Deckenbeleuchtung ist solch ein Beispiel. Statt einem Schalter für alle Lichtzeilen im Raum sollte jede Lichtzeile separat ein- und ausgeschaltet werden. Der Strombedarf für das Raumlicht war auf diese simple Weise viel sparsamer zu regeln. Über 3 Mio. Euro konnten so in den vergangenen 15 Jahren insgesamt eingespart werden – zwei Drittel davon flossen in Schulsanierungen, das restliche Drittel durfte die Schule bzw. die beteiligten Schüler zum Selbstzweck ausgeben.
Auch in der „Alten Bürger“ wurde bereits Pionierarbeit geleistet. Bereits 2002 erhielt der Bremerhavener Hausverwalter Alexander Schramm für sein Modellsanierungsprojekt „Bürger 202” als bundesweit erstes Bauvorhaben das Gütesiegel „Das Plus für Arbeit und Umwelt”, gestiftet von Greenpeace und der Industriegewerkschaft Bauen/ Agrar /Umwelt (IG BAU).
Welchen Anteil haben denn die Gebäude in Bremerhaven am gesamten CO2-Ausstoß?
Scherzinger: Die Zahlen des jährlichen CO2-Monitorings vom Statistischen Landesamt weisen aus methodischen Gründen zwei Jahre zurückliegende Emissionen aus. Soviel kann gesagt werden: Von ca. 1 Mio. Tonnen an CO2-Ausstoß im Jahr 1990 ist Bremerhaven nach den aktuellen Daten bereits auf ca. 790.000 /p.a. herunter. Diese Zahlen gelten für die Emissionen der gesamten Kommune. Den Anteil aller Gebäudeemissionen in Bremerhaven können wir mit ca. 50 Prozent des Gesamtausstoßes der Kommune annehmen.
Spielt die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg für Ihre Arbeit eine Rolle?
Scherzinger: Viele junge Menschen haben ein sehr klare Haltung zum Thema Klimawandel und erkennen glasklar die teils drastischen Auswirkungen, die diese Altersgruppe sicher noch sehr viel stärker beschäftigen werden als die Generation 50+. Der Jugendklimarat, dessen Geschäftsstelle meine Abteilung das „Klimastadtbüro“ des Umweltschutzamtes Bremerhaven ist, beteiligt sich seit sechs Jahren aktiv im kommunalen Klimaschutz. Schöne Folge des Ganzen: In Bremerhavens dänischer Partnerstadt Frederikshavn wurde jüngst ein Jugendklimarat nach Bremerhavener Vorbild gegründet. Das alles geschah ohne Greta.
Allerdings gab Greta Thunbergs Erscheinen den Anstoß für eine erste Freitagsdemo in Bremerhaven und dafür, dass wir auf unserer kommenden transnationalen Konferenz für das Projekt ActNow! fest einen Jugendgipfel einplanen. Dort werden dieses Jahr zwischen dem 30. September und 2. Oktober in SØnderborg (DK) erstmals deutsche und dänische Jugendliche zusammenkommen, um sich zu Klimaschutzfragen im Ostseeraum Raum austauschen. ActNow! macht das möglich.
Wie geht es aktuell weiter mit ActNow!?
Scherzinger: Das Klimastadtbüro als Koordinator ist wie gesagt mit der Zusammenfassung erster Projektergebnisse, wie z. B. einer Stärken-/Schwächenanlayse zur Umsetzung von Effizienzprogrammen in Kommunen beschäftigt. Es folgen Arbeiten an den Finanzierungsleitfäden usw.. Nach Projektabschluss, ab Oktober 2020, wird uns die administrative Projektabwicklung noch einige Zeit beanspruchen. Und schon zum Herbst 2019 werden voraussichtlich die Weichen für ein mögliches Anschlussprojekt gestellt. Denn bei bestmöglichem Projektverlauf sollten auch nach Abschluss des Projekts Act Now! zum einen Folgeinvestitionen für die Bremerhavener Klimameile ermöglicht worden sein und zum zweiten genug Erfahrungen gesammelt worden sein, die sich auf weitere Quartiere in der Stadt übertragen lassen.
_________________________________________________________________
Ein Münchener in Bremerhaven: Till Scherzinger (56), Leiter des Bremerhavener Klimastadtbüros, studierte an der FU-Berlin Biologie und war vor seiner Beschäftigung beim Magistrat einige Jahre als Meeresbiologe am Alfred Wegner Institut beschäftigt. Der gebürtige Münchner mit Berliner Sozialisierung ist glücklich liiert, hocherfreuter Vater dreier Töchter und lebt bzw. arbeitet seit über 20 Jahren gerne in Bremerhaven an der Nordseeküste. „Die Menschen hier sind zumeist sehr geradlinig und unverstellt, das gefällt mir.“